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Museum Odenkirchen

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Schütze Arsch und Admiral Lametta

Zwei Obernkirchner im Ersten Weltkrieg (1914 – 1918)

 

Im Juli 1914 bereitet sich der 17-jährige Schuhmacher-Lehrling Karl Abel, drittes Kind einer Bergarbeiter-Familie mit sechs Kindern aus der Strull-Straße in Obernkirchen auf seine Gesellenprüfung vor. Er hat eine schwere Zeit hinter sich: Seit dem April 1911 war er in eigenen Worten „Objekt für den Lehrmeister“ Albert Heumann. Gegen Kost und Logis erlernt er das Handwerk, die tägliche Arbeitszeit setzt der Meister fest. Außer einem jährlichen Weihnachtsgeschenk gibt es keine Entlohnung und von seinem Züchtigungsrecht macht der Meister durchaus und immer wieder Gebrauch.

So liefen denn diese dreieinhalb Jahre ohne einen Tag Urlaub, ohne Entlohnung, ohne Schutz, mit einer Arbeitszeit von im Schnitt 14 Stunden täglich über die Bühne.“

 

Weltkriegs – Ticker: Juli/August 1914

 

Seit dem Frühjahr 1914 drängt der Chef des Großen Generalstabs und enge Vertraute Wilhelms II., Helmuth von Moltke auf den baldigen Kriegsbeginn:

Je eher, desto besser.“

Die dem Attentat von Sarajewo, bei dem der österreichische Thronfolger und seine Frau von einem jungen serbischen Nationalisten erschossen wurden, folgende Julikrise endet mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien am 28. Juli 1914, nachdem das Deutsche Reich seinem Verbündeten bedingungslose Unterstützung signalisiert hat. Daraufhin erfolgt die Mobilmachung Russlands als Schutzmacht Serbiens. Eine Kettenreaktion folgt:

Das Deutsche Reich erklärt Russland, und zwei Tage später Russlands Bündnispartner Frankreich den Krieg. Großbritanniens Kriegserklärung erreicht Deutschland am 4. August, nachdem deutsche Truppen das neutrale Belgien überfallen haben, um in einem raschen Vormarsch Frankreich besiegen zu können.

 

Zu diesem Zeitpunkt hat der aus Obernkirchen stammende Sohn eines Theologen und Lehrers, Reinhard Scheer, bereits eine steile Militärkarriere hinter sich: Als 16-Jähriger war er im April 1879 als Kadett in die kaiserliche Kriegsmarine aufgenommen worden. Als junger Offizier ist er zwischen 1883 und 1890 aktiv an der Ausweitung und militärischen Sicherung der deutschen Kolonien in Afrika und Ostasien beteiligt. Er gilt als Draufgänger, leitet Bestrafungsaktionen gegen aufständische Einheimische und überzeugt seine Vorgesetzten durch Brutalität und „rücksichtsloses Draufgehen“, wie es zur Begründung seiner ersten Kriegsauszeichnung 1889, seines ersten „Lamettas“, heißt. Nach weiteren Stationen in der Kriegsmarine und mehreren Beförderungen arbeitet er an der Seite des Großadmirals von Tirpitz als Chef der Zentralabteilung im Marineamt maßgeblich mit am Aufbau der gegen Großbritannien gerichteten „Risikoflotte“. Im Dezember 1913 wird er zum Vizeadmiral ernannt. Bei Kriegsbeginn befehligt Scheer das II. Geschwader der kaiserlich-deutschen Kriegsflotte.

 

Der Lehrling Karl Abel erfährt von der Mobilmachung, als er gerade den voll beladenen Erntewagen seines Lehrherrn entladen muss. Verständnislos sieht er seinen Meister in Tränen ausbrechen, weil der fürchtet als Soldat in den Krieg zu müssen. Abel fehlt noch jede Vorstellung vom Kriegsalltag, er ist hundemüde und denkt nur an das Ende seiner harten Lehrlingszeit: Im September wird er seine Gesellenprüfung machen!

 

Weltkriegs – Ticker: August/September 1914

 

Nachdem Wilhelm II. verkündet hat, er kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche, mag auch die Sozialdemokratie, die die größte Fraktion im Reichstag stellt, nicht mehr abseits stehen: Sie stimmt am 4. August der Bewilligung der Kriegskredite zu und erklärt ihren Verzicht auf alle politischen Aktionen außerhalb des Parlaments für die Dauer des Krieges („Burgfrieden“).

Zu diesem Zeitpunkt haben deutsche Truppen bereits mit der Besetzung des neutralen Belgiens begonnen. Die SPD begründet ihre Entscheidung mit der Notwendigkeit, alle Kräfte zu bündeln, um den "russischen Despotismus" abwehren zu können.

Die Kirchen aller nun kriegführenden Länder beanspruchen wortreich Gottes Beistand für den Sieg ihrer Armeen und zeigen sich fest überzeugt, dass der Krieg die Bindung der Menschen an Glaube und Kirche festigen werde.

Für die national-konservativen "Alldeutschen Blätter" ist der Krieg nicht der "blindwütige Zerstörer", sondern "der sorgsame Erneuerer und Erhalter, der große Arzt und Gärtner, der die Menschheit auf ihrem Wege zur Höherentwicklung begleitet."

 

Seit dem 1. Oktober 1914 ist Karl Abel nach gut bestandener Prüfung Schuhmachergeselle. Er kündigt bei seinem Lehrherrn und siedelt um nach Minden, wo er in der Maßwerkstatt des erfahrenen Theodor Dorendorf Anstellung findet. Er verdient zunächst 7. 50 Mark pro Woche bei zehnstündiger täglicher Arbeitszeit mit Kost und Unterkunft. Aber der junge Geselle ist ehrgeizig und zielstrebig, lernt schnell unter Anleitung seines Meisters "die Feinheiten, Kniffe und den Schönheitssinn in diesem Handwerk" und kann bald im Stücklohn acht Stunden täglich arbeiten wie die älteren, erfahrenen Kollegen.

 

Weltkriegs – Ticker: September/Oktober 1914

 

Den deutschen Truppen gelingt es im Osten, die russischen Armeen, die Ostpreußen besetzt haben, zurück zu schlagen. Im Westen dagegen müssen sich die Deutschen Mitte September nach raschem Vormarsch bis zum Fluss Marne nordöstlich von Paris einer französischen Gegenoffensive beugen und ziehen sich in gesicherte Stellungen zurück. Auch die Nachschubhäfen für das

britische Expeditionskorps an der flandrischen Nordseeküste bleiben in alliierter Hand. Helmuth von Moltke telegrafiert an seinen Kaiser: "Majestät, wir haben den Krieg verloren!"

Gegenseitige Versuche, die Frontlinien durch Sturmangriffe mit aufgesetztem Bajonett zu eigenen Gunsten zu verschieben, scheitern unter hohen Verlusten.

Nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind vorläufig die Vorstellungen und Diskussionen über die deutschen Kriegsziele. Industrieverbände und Reichsregierung stimmen allerdings darin überein, dass Deutschland zur Hegemonialmacht Europas werden soll, Gebiete westlich und östlich der bestehenden Landesgrenzen annektiert und die Nachbarländer zu Vasallenstaaten degradiert werden sollen. In Zentralafrika plant man ein großes Kolonialreich unter Einschluss der belgischen Kolonie Kongo.

 

Der Stratege und Draufgänger Reinhard Scheer ist praktisch zur Untätigkeit verdammt: Die englische "Channel Fleet" verriegelt den Ärmel-Kanal gegen Durchbruchsversuche der deutschen Kriegsflotte, der Zugang zum Atlantik wird durch die "Grand Fleet" wirkungsvoll blockiert. Die zahlenmäßig unterlegene deutsche Kriegsflotte kann die Häfen an Nord- und Ostsee kaum verlassen und ist weitgehend zu Passivität verurteilt. Da Scheer sich einen Ruf als fähiger militärischer Führer erworben hat und seine strategischen Überlegungen seit seiner Mitarbeit an den Flottenprogrammen gegen Großbritannien gerichtet sind, gilt er nun als der einzige kommandierende Admiral, dem man zutraut, die Hochseeflotte aus der strategischen Sackgasse heraus zu führen. Folgerichtig übernimmt er Ende Dezember 1914 das III. Geschwader der Kriegsflotte mit den modernsten Linien- und Schlachtschiffen der Kaiserlichen Marine.

Zur gleichen Zeit lernt Karl Abel in Minden durch seinen Chef, einen überzeugten Sozialisten, die Geschichte der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften kennen. Dorendorf nimmt ihn zu Versammlungen in den umliegenden Orten mit, dort lernt er viele sozialistische Kriegsgegner kennen und knüpft auch Kontakte zu den Gewerkschaften. Wie wichtig diese Organisationen der Arbeiter sind, hat er bereits 1912 erfahren, als die Schaumburger Bergarbeiter, darunter sein Vater, in einem zermürbenden Streik um bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne am Ende unterlagen. Im Dezember 1914 wird Karl Abel Mitglied der Gewerkschaft.

 

Weltkriegs – Ticker: November/Dezember 1914

 

Seit dem Herbst 1914 erstarren im Westen die Frontlinien, die Millionen Soldaten beider Seiten graben sich ein, der Krieg wird zum Stellungskrieg:

Durch stundenlangen Artilleriebeschuss vorbereitete Sturmangriffe ersticken im Abwehrfeuer moderner Gewehre, Handgranaten und Maschinengewehre.

Bei Ypern im Norden Belgiens sind in diesen „Materialschlachten“ Ende November 1914 bereits 100 000 Mann auf beiden Seiten umgekommen, erschossen, zerfetzt, krepiert.

Es gibt auch Gewinner in diesem Gemetzel: Die Firma Krupp versorgt nicht nur die deutschen Truppen mit schweren und schwersten Kanonen, auch Briten und Franzosen feuern aus 27 000 Krupp-Kanonen, die ihre Regierungen bis zum Beginn des Krieges mit Steuergeldern eingekauft haben. Außerdem darf die Firmenleitung auf eine beachtliche Zahlung der englischen Rüstungsfirma Vickers hoffen, denn Krupp hat bereits 1902 – alle europäischen Großmächte befanden sich in einem Wettrüsten gegeneinander – sein Granatzünderpatent

Kpz 96/04 mit Gewinnbeteiligung an jeder produzierten Granate verkauft. Die Auszahlung verzögert sich zwar für die Zeit des Krieges, ihre Höhe steigert sich aber mit dessen Dauer – schöne Aussichten!

Im Heimatort von Karl Abel und Reinhard Scheer sind am 31. Dezember 1914 schon dreißig Kriegsopfer zu beklagen. Deren Hoffnungen, im Herbst, spätestens aber Weihnachten nach siegreichem Ende des Krieges wieder zu Hause zu sein, haben sich als Illusionen erwiesen. Die Aussichten, das Inferno an den Fronten unbeschadet zu überleben, werden umso geringer, je gefräßiger die kriegführenden Generäle frisches Kanonenfutter fordern.

Karl Abel fiebert seinem 18. Geburtstag daher nicht mit großer Freude entgegen, denn damit steigt die Wahrscheinlichkeit, zum Heer eingezogen zu werden und als „Schütze Arsch“ dienen zu müssen.

Reinhard Scheer hat als kommandierender Admiral erheblich bessere Aussichten zu überleben. Getreu seiner Grundauffassung, „dass auf dem Weltmeer die Entscheidung liegt, ob ein Volk ein dienendes oder ein freies Herrenvolk sein wird“ arbeitet er mit Fleiß und Zielstrebigkeit an Plänen zur Zerstörung der britischen Seeherrschaft. Noch muss er sich gedulden, aber seine Zeit wird kommen, wenn der Krieg nur lange genug dauert.

 

Was wird das Jahr 1915 bringen?

 

 

2.Teil: Das Kriegsjahr 2015

 

Zu Beginn des Jahres 1915 ist der junge Schuhmacher Karl Abel nicht nur zu einem geachteten Facharbeiter in der Werkstatt seines Meisters Theo Dorendorf in Minden gereift, er hat auch sein politisches „Wissen um vieles erweitert“ und kennt nun „die Zusammenhänge zwischen Krieg und Frieden.“ Gegen die allgegenwärtige Beeinflussung durch die nationalistische Kriegs- und Durchhaltepropaganda erweist sich Abel als immun.

Zur gleichen Zeit verfasst der neue Flottenchef des mit modernsten Kriegsschiffen ausgestatteten III. Geschwaders der kaiserlichen Kriegsmarine „Denkschriften“ zu einer Handelsblockade und zum Einsatz der neuen , kaum erprobten U-Boote im Seekrieg gegen Großbritannien. Am neuen Kurs der Admiralität, zunächst „keine Entscheidungsschlacht mit der gesamten englischen Flotte suchen, sondern erst Kräfteausgleich durch Erfolge gegen einzelne Teile derselben anstreben“ zu wollen, ist Scheer maßgeblich mitbeteiligt. Er ordnet daher vorbereitende Gefechtsübungen seines III. Geschwaders an, die wegen der großflächigen Verminung der Nordsee in der Ostsee durchgeführt werden.

 

Weltkriegs -Ticker: Januar bis April 1915

 

Weil sich die Hoffnungen auf ein rasches, siegreiches Kriegsende nicht erfüllt haben, geht die kaiserliche Regierung nun zu einer systematischen Kriegswirtschaft über: Im Januar 1915 wird Mehl rationiert und die „Brotkarte“ eingeführt. Sie ist der Beginn einer langen Kette von Rationierungen und damit von Hunger und Verelendung der deutschen Zivilbevölkerung.

In der Reichstagsfraktion der SPD wächst die Unzufriedenheit: Mehrere Abgeordnete schließen sich dem Votum ihres Kollegen Karl Liebknecht vom Dezember 1914 an und sprechen sich gegen die Bewilligung weiterer Kriegskredite aus. Im Reichstag verweigern im März 1915 32 Abgeordnete ihre Zustimmung – eine Spaltung der SPD ist nun nicht mehr auszuschließen.

Die Aktionäre großer Rüstungsfirmen und kriegswichtiger Betriebe können sich zur gleichen Zeit über enorme Gewinne freuen: So melden zum Beispiel die Waffenfabrik Mauser AG eine „Rekorddividende“ von 20 Prozent und die Rottweiler Pulverfabriken eine „Superdividende“ von 21 Prozent. Ähnliche Gewinnsteigerungen erwarten auch die „Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken“, die Daimler - Motorenfabrik und viele andere.

 

Am 10. Februar 1915 begeht Karl Abel seinen 18. Geburtstag. Er muss nun damit rechnen, zum Heer eingezogen zu werden – je höher die Zahl der toten und verletzten Soldaten, desto eher – und hat daher wenig Grund zu feiern.

In den folgenden Monaten kann er „fast täglich“ während der Arbeit „das gleiche grausame Schauspiel“ beobachten: Vom Werkstattfenster in der Hufschmiede aus sieht Abel „die neu formierten, feldgrau eingekleideten Formationen“, die vor ihrem Transport an die Fronten ihren letzten Segen in der Garnisonskirche der preußischen Festungsstadt Minden – der Marienkirche – erhalten. Er wird diese Bilder und die bissigen Kommentare seines alten Meisters niemals vergessen.

Der schon hoch dekorierte Karriere-Offizier Reinhard Scheer erlebt im Februar eine Enttäuschung. Nicht er, sondern Admiral von Pohl wird zum neuen Flottenchef der gesamten kaiserlichen Kriegsmarine ernannt, obwohl viele jüngere Seeoffiziere den aktiveren und offensiver denkenden Scheer bevorzugt hätten. Dennoch wird der U-Boot-Handelskrieg gegen Großbritannien eröffnet,

dem Scheer „größte Bedeutung für den Ausgang des Krieges“ beimisst. Den

Kräftezuwachs bei dem nun vollständigen dritten Geschwader“, das ja unter seinem Kommando steht, würde er gern nutzen, „es darauf ankommen zu lassen“, die britische Kriegsflotte „durch eine Seeschlacht zu schädigen.“

 

Weltkriegs – Ticker: Mai bis September 1915

 

Die deutsche oberste Heeresleitung erweitert das Waffenarsenal um chemische Kampfstoffe. Ende April wird nach einer Empfehlung und mit Unterstützung des Chemikers Fritz Haber Chlorgas an der Westfront eingesetzt, 3000 britische Soldaten ersticken qualvoll. Durch diesen „Erfolg“ beflügelt liefern sich die kriegführenden Mächte ein „chemisches Wettrüsten“ und setzen immer wirksamere Giftgase ein. Bis zum Ende des Krieges werden die Gas-Attacken rund 70 000 Tote und hunderttausende verätzte und erblindete Soldaten fordern.

Ende Mai tritt Italien auf Seiten der Entente in den Krieg gegen Österreich – Ungarn und das Deutsche Reich ein. Die Hoffnungen auf große Gebietsgewinne im Norden und Nordosten Italiens ertrinken nach fünf gescheiterten

Großoffensiven in einem Blutbad.

Die rege Debatte über die deutschen Kriegsziele mündet in ein Annexionsprogramm, das breite Unterstützung bei Industrie- und Bauernverbänden, sowie den konservativen und liberalen Parteien findet.

Es verlangt „ausreichende Kriegsentschädigungen“ von den Kriegsgegnern, die weitgehende Kolonialisierung Belgiens, die Inbesitznahme der nördlichen französischen Atlantikküste und eines ausreichend großen Teils des „Hinterlandes“ zur „vollen Ausnutzung der gewonnenen Kanalhäfen“ und die „Angliederung mindestens von Teilen“ des Baltikums an der Ostsee „und der südlich davon liegenden Gebiete...“

 

Die U-Boot-Waffe, auf die der Stratege Scheer so große Hoffnungen gesetzt hatte, wird seit September nicht mehr so eingesetzt, wie er es für erforderlich hält. Nach der Torpedierung des britischen Passagierdampfers „Lusitania“ durch ein deutsches U-Boot im Mai des Jahres waren 1200 Tote, darunter auch 120 US-Bürger zu beklagen. Aus Furcht vor einem möglichen Kriegseintritt der USA gegen das Deutsche Reich hatte die deutsche Regierung daher ein Ende des „uneingeschränkten U-Boot-Krieges“ verfügt. Nun dürfen in den Gewässern rund um England und Irland, die das Deutsche Reich zum Kriegsgebiet erklärt hatte, Handelsschiffe der Kriegsgegner und Schiffe unter neutraler Flagge nicht mehr ohne Vorwarnung angegriffen und versenkt werden.

 

Weltkriegs – Ticker: Oktober bis Dezember 1915

 

Nach monatelangen Versuchen, die Dardanellen (eine der Meerengen zwischen dem Mittelmeer und dem Schwarzen Meer) zu erobern geben Briten und Franzosen den verlustreichen Kampf gegen die türkischen Verteidiger und die sie unterstützenden deutschen Offiziere auf. Sie verlegen den Kriegsschauplatz gegen das osmanische Reich in Zukunft auf die arabische Halbinsel.

Europa gleicht nach eineinhalb Jahren Krieg einem gigantischen Menschenschlachthaus.

Aber die Militärstrategen aller kriegführenden Länder bereiten für das Jahr 1916 – ohne Rücksicht auf Verluste – neue Offensiven vor. So entwickelt zum Beispiel der deutsche Chef des Generalstabs des Heeres von Falkenhayn in seiner „Weihnachtsdenkschrift 1915“ eine „Blutpumpenstrategie“. Nach ihr sollen die französischen Verteidiger von Verdun so lange und so massenhaft „verbluten“, bis die deutschen Truppen strategische Vorteile erzielt haben.

Diese Strategie wird auch die Zahl der getöteten und verletzten deutschen Soldaten in die Höhe treiben. Erwähnung findet diese Konsequenz in Falkenhayns „Denkschrift“ nicht – er kalkuliert sie ein.

 

In seiner Bilanz des Jahres 1915 vermisst Scheer „ein ernsthaftes Streben“ bei seinen Vorgesetzten „an den Feind heranzukommen“. Gemeinsam mit seinem früheren Förderer, dem Marine-Staatssekretär von Tirpitz drängt er mit wachsender Ungeduld zu einer Rückkehr zum uneingeschränkten U-Boot-Krieg.

Er plädiert dafür, sich über „alle Bedenken rücksichtslos hinwegzusetzen“, um den britischen Nachschub empfindlich zu stören. Im „Blutpumpen-Strategen“

Erich von Falkenhayn findet er einen weiteren einflussreichen Unterstützer, wie dessen „Weihnachtsdenkschrift“ zeigt.

 

Weltkriegs – Ticker: Nachtrag 1915

 

Im Herbst hat in der Schweiz eine im allgemeinen Kriegslärm zunächst wenig beachtete internationale Konferenz stattgefunden, an der prominente Sozialisten aus allen kriegführenden Ländern teilgenommen haben. Sie fordern in ihrer Abschlusserklärung einen „Frieden ohne Annexionen und Kriegsent -

schädigungen“ auf der Grundlage des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“.

Dieser Forderung hätte der junge Sozialist Abel sicher sofort zugestimmt.

Er erlebt in Minden, wie die anfängliche Kriegsbegeisterung immer mehr verfliegt und erwartet am Ende des Jahres 1915 seine Einberufung als junger Soldat in einen Krieg, den er mittlerweile aus tiefster Überzeugung ablehnt.

In seinen Heimatort Obernkirchen werden nach dem Ende des Krieges weitere

50 junge Männer nie mehr zurückkommen, sie sind im Laufe des Jahres an den verschiedenen Fronten zu Tode gekommen. Nicht wenige dieser Kriegstoten wird Abel gekannt haben.

 

Düstere Aussichten für das Jahr 1916....

 

 

3. Teil: Das Kriegsjahr 1916

     

Auch in den ersten Monaten des neuen Jahres arbeitet Karl Abel noch in der Mindener Schusterwerkstatt und rechnet täglich mit seiner Einberufung: Für einen 19-Jährigen, der längst eine tiefe Abscheu gegen diesen Krieg entwickelt hat, eine schwer erträgliche Situation! Sein Meister kann ihm keine Hoffnung machen, von der Einberufung verschont zu bleiben, dazu ist die Zahl der Kriegsopfer viel zu hoch. Im April erhält Abel tatsächlich den lang erwarteten

Bescheid.

Reinhard Scheer wird im Januar 1916 als Nachfolger des schwer erkrankten Admiral von Pohl zum „Chef der Hochseestreitkräfte“ ernannt. Er will die zögerliche Taktik seines Vorgängers aufgeben und gegen den Gegner nun „sehr viel energischer“ vorgehen. Der Unterstützung einer großen Mehrheit der Seeoffiziere kann er sich dabei sicher sein. Um seine „völlige Unabhängigkeit für die zukünftigen Entschließungen“ zu zeigen, stellt er eine eigene Führungsmannschaft ihm treu ergebener Seeoffiziere zusammen und lässt nach dieser „Machtergreifung“ auch sofort Taten sprechen: Gegen den Widerstand des Reichskanzlers von Bethmann-Hollweg wird der U-Boot-Krieg an der Westküste Großbritanniens wieder eröffnet und die englische Ostküste durch See- und Luftstreitkräfte beschossen.

 

Weltkriegs - Ticker: Januar – April 1916

 

Am 21. Februar beginnt der deutsche Angriff auf Verdun – ganz so, wie von Falkenhayn ihn in seiner „Weihnachtsdenkschrift 1915“ konzipiert hatte. Nach einigen Anfangserfolgen bleibt der deutsche Vormarsch stecken.

Ende März torpedieren deutsche U-Boote den unter französischer Flagge fahrenden Dampfer „Sussex“. Von 325 Passagieren sterben 80, darunter auch viele US-Amerikaner. Nach einer scharfen Protestnote der USA verspricht die deutsche Regierung den Verzicht auf den verschärften U-Boot-Krieg. Im Gefolge dieses Streits zwischen militärischer und politischer Führung wird der langjährige Protege Scheers, von Tirpitz als Staatssekretär des Reichsmarineamts abgelöst – zum Bedauern Scheers, der ihn nach wie vor als „Persönlichkeit mit genialem Weitblick“ schätzt.

Im Streit um die Bewilligung weiterer Kriegskredite gründen 18 Reichstagsabgeordnete der SPD, die ihre Zustimmung verweigern, eine „sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft“. Einer durch die Mehrheit der SPD-Abgeordneten erzwungenen „Fraktionsdisziplin“ wollen sie sich von nun an nicht mehr beugen. Damit ist die Spaltung in zwei sozialdemokratische Reichstagsfraktionen faktisch vollzogen.

 

Am 2. Mai muss sich der junge Schustergeselle Abel beim Bezirkskommando Hannover einfinden. Er tritt „nüchtern“, also ohne Illusionen, ausgestattet mit guten Ratschlägen seiner politischen Freunde den Weg an. Mit rund tausend anderen Rekruten „wie das Vieh in Viehwagen verladen“ rollt der Transport vom Güterbahnhof Weidendamm nach Berlin als Nachschub für die Garde-Regimenter. Abel wird mit anderen nach Treptow in die Kasernen einer „Elite-Truppe“, des Nachrichten-Bataillons I geführt. Der 19-Jährige beschließt „Schütze Arsch im letzten Glied“ zu bleiben, auf „Lametta“ und „Heldentod“ legt er keinen Wert. Er will ein verlässlicher Kamerad sein und sich an den Werten der Schutzpatronin der Bergleute orientieren: Treue, Glauben an den Menschen, Liebe, Fröhlichkeit, Kameradschaft, Zuversicht und Brüderlichkeit.

 

Etwa zur gleichen Zeit, Ende Mai, sieht Scheer – ganz im Sinne der Strategie, einen „Kräfteausgleich durch Erfolge gegen einzelne Teile“ der britischen Flotte zu erreichen – die Chance, ein britisches Schlachtkreuzer-Geschwader zu attackieren. Die gesamte Hochseeflotte verlässt ihre Häfen und dampft in Richtung der Skagerrak-Meerenge zwischen Dänemark und Norwegen. Allerdings haben die Briten deutsche Funksprüche abfangen können, so dass auch die gesamte Grand Fleet ausgelaufen ist, um die deutsche Kriegsflotte vernichtend zu schlagen.

Am 31. Mai treffen 254 Kriegsschiffe zur gewaltigsten Schlacht der Seekriegsgeschichte aufeinander. Am Ende gelingt es Scheer durch mehrmalige waghalsige Kehrtwendungen seiner gesamten Flotte sich der Umklammerung und Vernichtung durch die zahlenmäßig überlegene britische Flotte zu entziehen, im Schutz der Dunkelheit zu entkommen und am 1. Juni wieder in Wilhelmshaven einzulaufen. Den glimpflichen Ausgang der Seeschlacht feiern Scheer und seine Offiziere nach ihrer Rückkehr mit Sekt.

Viele deutsche Schiffe sind zwar schwer beschädigt, aber dank ihrer außergewöhnlich starken Panzerung nicht gesunken. Der Verlust an Schiffen und Personal ist auf britischer Seite deutlich höher. Insgesamt sterben binnen weniger Stunden beinahe 10 000 Deutsche und Briten. In seinem „Immediatbericht“ an den Kaiser über die Schlacht schreibt Scheer, es könne „kein Zweifel bestehen, dass selbst der glücklichste Ausgang einer Hochseeschlacht England England in diesem Kriege nicht zum Frieden zwingen wird.“ Er empfiehlt als Konsequenz, sich über alle politischen Bedenken „rücksichtslos“ hinwegzusetzen und den uneingeschränkten U-Boot- Krieg zur Störung des englischen Nachschubs zu führen, denn das U-Boot sei „die gegebene Waffe für den Schwächeren.“

 

Weltkriegs – Ticker: Mai – August 1916

 

Um der Erschöpfung und wachsenden Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung entgegenzuwirken, deutet die deutsche Kriegspropaganda Scheers strategisches Scheitern in der Nordsee zu einem großen Sieg um. Scheer wird als „siegreicher Führer“ und Kriegsheld in allen Presseorganen gefeiert. Die Öffentlichkeit wird mit verherrlichenden Broschüren, Fotos, Bildern und Schlachtengemälden geradezu geflutet.

Die schwindende Kriegsbegeisterung im deutschen Reich zeigt sich in ersten Streiks und bei der Maidemonstration des linken „Spartakusbundes“ in Berlin. Obwohl sie wegen des für die Dauer des gesamten Krieges geltenden „Belagerungszustands“ verboten ist und empfindliche Strafen drohen, nehmen mehrere tausend Menschen unter dem Motto „Brot!Freiheit!Frieden!“ an der Kundgebung teil. Der Hauptredner, der Reichstagsabgeordnete Karl Liebknecht, wird wegen „versuchten Kriegsverrats, erschwerten Ungehorsams und Widerstand gegen die Staatsgewalt“ zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt.

Im Juni beginnen die Briten, unterstützt von französischen Truppen, eine Offensive am Flüsschen Somme in Nordfrankreich. Ähnlich wie bei Verdun gibt es trotz gewaltigen Einsatzes an Material und Truppen in monatelangen Kämpfen kaum Frontverschiebungen.

Wegen der ständig schlechter werdenden Versorgung der Bevölkerung wird im Frühsommer in Berlin das „Kriegsernährungsamt“ eingerichtet. Von nun an werden alle Lebensmittel vollständig rationiert. Allerdings können sich der Adel und wohlhabendere Bürger weiterhin auf dem blühenden „Schwarzen Markt“ versorgen, auf den zum Beispiel bis zur Hälfte aller Fleischvorräte gelangen.

 

Schon nach rund acht Wochen Ausbildung „als Soldat bei Preußens Armee“, in der ihm beigebracht wird, das Denken und Sprechen den Offizieren und Unteroffizieren zu überlassen, wird Abel zum Kriegseinsatz abkommandiert.

Er wird der Front auf dem Balkan zugeteilt und nimmt an den Kämpfen in Serbien und Mazedonien teil. Nach dem Kriegseintritt Rumäniens auf alliierter Seite im August des Jahres gehört er zu den Einheiten, die gemeinsam mit bulgarischen und türkischen Truppen bis zum Dezember in erbitterten Kämpfen die Hauptstadt Bukarest einnehmen und besetzen.

Reinhard Scheer erfährt eine weitere Beförderung: Er wird zum Admiral ernannt. Es folgen die Ehrenbürgerwürde der Stadt Hanau, in der Scheer seine Jugend verbracht hatte, zwei Doktor-Titel ehrenhalber, die Verleihung des Ordens „Pour le Merite“ sowie rund zwanzig weitere Orden und Auszeichnungen. Die von ihm befehligte Kriegsflotte liegt derweil in Reparatur-Docks, in Kriegshäfen, und die Besatzungen sind zu täglichen Routinediensten bei stetig schlechterer Versorgung gezwungen.

 

Weltkriegs – Ticker: Oktober – Dezember 2016

 

Im Oktober und November des Jahres enden die monatelangen Menschenschlächtereien an der Westfront. Die vergeblichen Versuche der Generäle, die Fronten zu verschieben sind in einem Meer von Blut gescheitert: Rund 1 Million Engländer, Franzosen und Deutsche an der Somme und über 750 000 Deutsche und Franzosen bei Verdun sind Opfer der Strategen in den Generalstäben geworden.

Anfang Dezember verabschiedet der Reichstag mit den Stimmen der sozialdemokratischen Mehrheitsfraktion das „Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst“. Es verpflichtet alle männlichen Deutschen „vom vollendeten 17. bis zum vollendeten 60. Lebensjahr“ zum „vaterländischen Hilfsdienst während des Krieges“. Als Hilfsdienst gelten dabei alle Tätigkeiten und Betriebe, „die für die Zwecke der Kriegführung oder der Volksversorgung unmittelbar oder mittelbar Bedeutung haben“. Diese Aufhebung der Freizügigkeit, der Wahl des Arbeitsplatzes und des Streikrechts nennen die Gegner des Gesetzes „die Kasernierung des ganzen deutschen Proletariats“.

Ohne Mitwirkung des Parlaments unterbreitet die kaiserliche Regierung kurz darauf den alliierten Kriegsgegnern ein „Friedensangebot“. Es enthält keinerlei Vorschläge oder Zugeständnisse für mögliche Friedensverhandlungen. Man lehnt aber für den Fall, dass die Alliierten dieses Angebot nicht annehmen, „feierlich jede Verantwortung dafür vor der Menschheit und der Geschichte ab“ und zeigt sich entschlossen, den Kampf „bis zum siegreichen Ende zu führen.“

Die erwartete Ablehnung dieses inhaltsleeren „Angebots“ soll – so spekuliert der Reichskanzler – helfen, die Kriegsmüdigkeit der deutschen Bevölkerung zu überwinden und sie zu „äußerster Kraftanstrengung und Entsagung“ zu motivieren. Die Erfolgsaussichten dieses Schachzugs sind angesichts einer Missernte und der immer spürbareren Auswirkungen der britischen Seeblockade im beginnenden ersten „Steckrübenwinter“ eher gering.

 

Den richtigen Zeitpunkt für die Intensivierung des U-Boot-Krieges sieht der nun mit viel „Lametta“ dekorierte Admiral Scheer verpasst. Aber als „Sieger vom Skagerrak“ hat er auch politisch an Einfluss gewonnen, und er nutzt diesen, um für den uneingeschränkten U-Boot-Krieg zu werben. Er stellt in Aussicht, auf diese Weise Großbritannien in einem halben Jahr durch die massenhafte Versenkung von Nachschubschiffen bezwingen zu können und glaubt, auf amerikanische Interessen und Drohungen vor einem Kriegseintritt der USA auf Seiten der Alliierten keine Rücksicht nehmen zu müssen. Eine gewagte Spekulation des bisher erfolglosen, aber gefeierten Seekriegsstrategen und ein politisches Vabanque-Spiel eines „rücksichtslos“ agierenden Admirals!

 

Karl Abel verbringt das Ende des Jahres fern der Heimat in Rumänien. Er hat erste schreckliche Eindrücke vom Kriegselend sammeln müssen: Er ist in Viehwaggons als unfreiwilliger Soldat durch halb Europa transportiert worden, hat an Kampfeinsätzen teilgenommen, dabei Verletzte, Verstümmelte und Tote gesehen und muss damit rechnen, im neuen Jahr weiter nach Osten an die russische Front verschoben zu werden. Das eigenständige Denken hat er sich als politisch interessierter und kritischer Mensch auch durch die erniedrigende Menschenführung durch Offiziere und Unteroffiziere nicht nehmen lassen. Dennoch wird er sich zeitlebens weigern, seine Kriegserinnerungen niederzuschreiben. Für das Grauen gibt es keine angemessene Sprache!

Bisher hat er überlebt – anders als 36 andere junge Obernkirchener, die nach diesem mörderischen Jahr an den Fronten nie mehr in ihre Heimatstadt zurück kehren werden.

 

Ein weiteres Kriegsjahr steht bevor...